Phantomidyllen

 

Andreas Gottlieb Hempel

 

Vor über einem halben Jahrhundert, schon zu Beginn der 1950er Jahre konnte man miterleben, wie zunächst Gäste, dann aber Touristenmassen begannen, das bäuerliche Tirol als Ferienziel in Besitz zu nehmen. In übergroßer Zahl sahen sie im Urtümlichen der Berglandschaften ein anheimelndes Gegenstück zur Unwirtlichkeit ihrer Städte. Der ursprüngliche Charakter der Tiroler Landschaft, ihrer Städte und Dörfer wurde in den folgenden Jahren durch Bauten und Infrastrukturen für den Tourismus belastet, bisweilen zerstört. Umso mehr wurde daran gearbeitet, Illusionen des unwiederbringlich Verlorenen künstlich zu erzeugen. Dies wird in der äußeren Architektur von Bauten mit oberflächlichem Tiroler Dekor versucht, oder geschieht mit Inneneinrichtungen romantisierter Sennhütten bis zur künstlichen Vielfalt untergeschossiger Wellnessanlagen.

Hoteliers mit ihren Innenraumplanern versuchen sich in geradezu überquellender Phantasie in raumgestalterischer Kunst. Aber schon Francisco de Goya meinte: „Ist die Phantasie von der Vernunft verlassen, so bringt sie unmögliche Monster hervor“.  Und Karl Kraus, der große Spötter, sagte einmal: „Kunst kommt von Können und nicht von Wollen – sonst hieße es Wunst“. Dieser Wunst missverstandener Kunst ist jedoch eine Lüge, die uns aber die Wahrheit zeigt. Ihr visuelles Erfassen erfüllt unsere Vorstellung von einer Wirklichkeit, die aus Erinnerungsbildern besteht. Jedenfalls nährt sich die Einbildungskraft aus Erinnerungsbildern, die aus der Landschaft gelesen wurden und sich mit dem Wesen eines Ortes verbinden. Mit dem geistigen Auge sehen wir über die verfehlten optischen Informationen hinweg – vor allem, wenn diese als unerträglicher Kitsch erscheinen – und imaginieren das Vergangene.

 

Der Fotograf Lois Hechenblaikner, der Kunst und guten Geschmack als moralische Kategorie betrachtet, arbeitet seit Jahren am Phänomen der Gestaltung im Alpenraum. Er hat bei seinen Hotelbesuchen mit zahllosen Aufnahmen touristischer Einrichtungen eine umfangreiche Sammlung von grotesken Gestaltungsversuchen zusammengestellt. Der Spott darüber ist ihm längst vergangen und einer tieftraurigen Beklemmung über den Verlust an künstlerischen Werten gewichen, welche die Baukunst der Außen- und Innenräume einst in Tirol bestimmten. Dieser Richtungsverlust wird zu einer psychologischen Kategorie, die den unbefangenen Betrachter in Verwirrung stürzen und an einer aufrichtigen Haltung seiner Gastgeber zweifeln lässt. Der subjektive Zugang zu den die Wirklichkeit bestimmenden Dingen ist somit nicht mehr frei, sondern mit Vorbehalten belastet.

 

In den Fotografien Hechenblaikners wird der Verfall der besonderen Identität Tirols und seiner Menschen ebenso dokumentiert wie die Anbiederung an den vermuteten Geschmack von Touristen. Altägyptische Dekorationen mit Pharaonenmasken wechseln ab mit venezianischen Impressionen, mythische Göttinnen in römische Togen gehüllt bevölkern griechische Tempelsurrogate, künstliche Grotten bilden Kunstlandschaften für den Zauberberg des kleinen Mannes, und Lifttüren sollen mit biederen Bauernschrankmotiven bemalt, rustikale Kultur imitieren. Die Darstellung dieser Abbilder von Naturen ist die Kehrseite, ein Surrogat der aufgegebenen unverbrauchten Natur. Angesichts der Phantasiegeburten des Designs öffnen sich dabei Abgründe des verlorenen kulturellen Gedächtnisses einer ganzen Region.

 

Lois Hechenblaikner ist vom Verlust der Bindungen an das Eigene, an die verschwundene Identität des Ortes und seiner Menschen betroffen und stellt mit überraschenden Bildern diesen Verlust augenscheinlich dar. Statt das Entstandene der Lächerlichkeit preiszugeben, provoziert er mit deren Entblößung eine Gegenwelt, die beim Betrachter bereits im Kopf entsteht. Diese könnte aus Kunst und Architektur ernsthaft aufgenommener und modern weiter entwickelter regionaler Einflüsse bestehen. Sie würde wieder echte Identität mit Orten und Charakter der Bewohner vermitteln statt in lächerliche Dekorationswelten abzugleiten, in denen es dem bewussten Betrachter nur übel wird. Die hier vorgestellte, technisch perfekte und dadurch gerade zum Umdenken herausfordernde Fotodokumentation transzendiert mit ihrer Betrachtung auch soziale Gefühle. Wo der Untergang erlebt wird, machen wir uns Bilder von schönen Situationen. Das kann den Reisenden veranlassen, sich Ziele auszuwählen, bei denen örtliche Identität noch sensibel erhalten ist, oder aufs Neue geschmackvoll für unsere Zeit geschaffen wurde.

Als Weg zum Besseren wird durch die nackte Darstellung unverfrorenen Kitsches andererseits eine architektonische und gestalterische Kunst angeregt, die aus regionalen Werten und dem Bewusstsein des eigenen Charakters von reflektierenden Architekten und Bauherren entwickelt werden kann. Die gibt es allerdings auch – aber man muss sie im Chaos der touristischen Entgleisungen leider mühsam suchen.

 

 

Andreas Gottlieb Hempel, 1941 geboren, Architekturprofessor, Journalist, Buchautor, Diplom-Sommelier sowie Wein- Natur- und Landschaftsführer. Nach Jahren mit Architekturbüros in München und Berlin und Berufspolitik als BDA-Präsident und Gründer des Deutschen Architektur Zentrums in Berlin Vizepräsident der UIA in Paris ließ er sich in Südtirol nieder und schreibt als Bergwanderer, Kunstliebhaber und Feinschmecker über Architektur und Baukultur.